Lehrstück, Kriminalfall oder gar
dunkles Orakel?
"Raffiniert kreuzt dieses Zweipersonenstück eine langweilige Schullektüre mit modernen dystopischen Filmen wie Gattaca oder Die Insel: Autor Robin Kulisch und Komponist Philipp Gras […] reduzierten das Personal der Novelle Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff auf zwei Personen, machen aus Männern Frauen und verlegen das Ganze in eine sterile weiße Zelle. [...]
Wir befinden uns in einem Überwachungsstaat, in dem 'Die Institution' regiert, […] warum die Gefangene hier festgehalten wird, erfahren wir erst nach und nach.
Das 'Draußen', von dem die Aufseherin immer wieder spricht, ist nichts als Projektion: brennende Hochhäuser, Bilder von zerstörter Natur flimmern über die Wände und später sehr eindrücklich auf dem Boden der Zelle, deren einziges Möbelstück eine metallene Bank ist. [...]
Immer wieder spielen die Dialoge auf die alte Vorlage aus dem Biedermeier an […] Rückblickende Filmbilder untermalen die gesungenen Enthüllungen. […]
Beide Darstellerinnen nutzen das Schwebende, Mysteriöse im Charakter der Frauen sehr schön aus, Franziska Becker beeindruckt mit ihrer Natürlichkeit und Elisabeth Ebner hat als strenge Anklägerin die heftigeren Belttöne.
Musik und Lyrics erinnern in ihrem engen Zusammenwirken manchmal an Stephen Sondheim: kurze Zeilen, viele Reime. […]
Die Songs klingen abwechslungsreich, von rockigen Anflügen bis zur stillen Ballade, vom dramatischen Aufschwung bis zu einem Tango der Frau in Schwarz, die in diesen sinnlichen Rhythmen ausgerechnet 'Ordnung und Gerechtigkeit für alle' besingt. Komponist Philipp Gras dirigiert die u.a. mit zwei Streichern schön instrumentierte Partitur selbst […]"
Angela Reinhardt, musicals – Das Musicalmagazin
Heft 194, Dezember/Januar 2018
Ein kluges und hochaktuelles Musical
"Ein Kubus ebenerdig vor der Bühne. Die Spitze ragt auf die Zuschauer zu. Der Boden und die beiden Rückwände dienen als Projektionsflächen. Eine stilisierte Bank aus Gitterrosten. Eine Zelle – im Kloster, zur Ausnüchterung, in einer Irrenanstalt, im Gefängnis?
Nur die Videos, [...] die über Boden und Wände flirren, ermöglichen einen Blick hinaus in die Welt und eine gedankliche Flucht aus der Enge der Zelle. Anfangs freilich gibt es da draußen nur eines: Krieg, Zerstörung und Natur-Katastrophen. Später, im Traum, erscheinen herrliche Wälder. Aber auch kurze Sequenzen geträumter, erträumter oder tatsächlicher Wirklichkeit.
Zwischen Traum, Alptraum, Realität, Gespräch und Verhör agieren zwei Frauen: Die in dieser Zelle Gefangene, ungekämmt und ungeschminkt, ganz in weiß, und die von draußen erscheinende Aufseherin, bis auf die roten Nägel und Lippen in schwarz, durchgestylt und mit strengem Haarknoten. [...]
Dem Texter Robin Kulisch und dem Komponisten Philipp Gras ist es gelungen, ein kluges, hochaktuelles und stilistisch überzeugendes Musical zu schaffen, basierend auf Motiven aus Annette von Droste-Hülshoffs 1842 erschienener Novelle Die Judenbuche. [...]
Beherzt und erfrischend haben sich die Musical-Macher das Stück zu eigen gemacht: Aus dem jungen Friedrich wird eine junge Frau, kurz F. genannt, die statt ins Exil zu flüchten isoliert in einer Zelle festgehalten wird. Aus dem Juden Aaron, den Friedrich umgebracht haben soll, wird – ebenfalls mit den Buchstaben spielend – eine junge Frau, Nora.
Und statt wie in Droste-Hülshoffs Untertitel im 'gebirgichten Westfalen' des 18. Jahrhunderts, spielt ETTENNA in einer gar nicht so fernen Zukunft, geprägt von Kriegen, Umweltzerstörung, Zwang und fragwürdigen Machthabern: Die 'Institution' sorgt für Ruhe, Recht und Ordnung. [...]
Immer wieder wird der 'Judenbuche'-Prolog zitiert [...] Als dringliche Mahnung, stets unvoreingenommen abzuwägen und nicht vorschnell über die Schuld eines Anderen zu urteilen. Als Hinweis, dass jemand, der eine glückliche Kindheit ohne wirtschaftliche Not mit liebevollen Eltern, die Vorbild für gerechtes Verhalten sind, erleben durfte, nicht das Recht hat, über andere zu werten, die nicht dieselben Startbedingungen hatten: 'Woher man kommt, bestimmt, wohin man gehört und geht.' [...]
Anfangs erkennt das Publikum nur Splitter wie Erinnerungen an die Kindheit [...] Erst langsam fügt sich in dem einstündigen Stück ein Teil zum anderen, werden Zusammenhänge sichtbar, lassen sich Ursachen vermuten, gibt es vielleicht doch ein paar wenige Antworten auf die vielen Fragen, die dieser intensive Theaterabend – ebenso wie das Leben – stellt. [...]
Franziska Becker als F. und Elisabeth Ebner als Nora, beides Schauspielerinnen und Musical-Darstellerinnen, faszinieren, sprech- und singstimmlich beeindruckend, mit ihrer ebenso prägnanten wie präsenten Interpretation. Sie werden großartig unterstützt durch die Musiker. [...]
Und die imponierende Lichtführung und -gestaltung [...] trägt und prägt die Stimmung in ETTENNA, in diesem großen Schwarz und Weiß – und in dem wichtigen Dazwischen."
Gabi Weiß, Eßlinger Zeitung
03. Oktober 2018